Abgefahren – ein anderes Projekt

Text von Dorothée Bauerle-Willert

Manche Ereignisse ragen wie Endmoränen aus der politischen, sozialen, gesellschaftlichen Landschaft heraus. Das sich zu Ende neigende Jahr 2020 wird solcherart in Erinnerung bleiben; in den vergangenen Monaten wurde unser Leben durchgeschüttelt, und vieles, was bisher unbedingt zum Leben dazugehörig schien, unbeschwerte Geselligkeit, Begegnungen, Berührungen, ist fast unmöglich geworden.

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Lange noch werden wir daran schleppen, so wie die geologischen Endmoränen mit Materialagglomerationen, Schlick und Moder beladen waren.
Wie ein vor Urzeiten stattgefundenes Landart-Projekt formten Wasser und Eis die Landschaft: Geröll, größere und kleinere Teile wurden im Gletscher-Eis abtransportiert und dort, sozusagen als Zeugen an der Stelle abgelagert, wo das Eis schließlich geschmolzen war. Die Veränderung der Landschaft ist ein andauernder Prozess, und wie das Ende des Eises eine völlig neue Umgebung hinterließ, so lassen sich – bereits seit 29 Jahren – Künstlerinnen unter dem programmatischen Namen ­ENDMO­RÄNE­, auf gesellschaftliche Kulturräume ein, spielen ihre Schichtungen, ihre Ablagerungen aus und um. Und auch in diesem Jahr, das – nicht nur für die Kunstwelt – so viele Veränderungen, Verwerfungen, Unsicherheiten und Fragen mit sich brachte, war Aufgeben keine Option. Wie gewohnt ließen sich die Künstlerinnen nicht von äußeren Hemmnissen oder vom Grenzwächtertum der Gattungen und Disziplinen einschüchtern, wie immer wurden in den so unterschiedlichen, vielfältigen Werken Barrieren nicht einfach überwunden, sondern porös oder fruchtbar gemacht, um auf den situativ-räumlichen Anlass eine künstlerische Antwort zu finden. Oder: Um auf die krude Realität der Voraussetzungen mit der Verwandlung eben dieser Realität zu reagieren. Von Jahr zu Jahr ergaben und ergeben sich neue Anschlussstellen, Scharniere und Umsteigestationen vom Raum zum künstlerischen Gebilde, vom Materiellen zum Imaginären, von der individuellen Setzung zur kollektiven, polyphonen Inszenierung.
Eigentlich sollte die mittlerweile schon traditionelle Sommerwerkstatt 2020 im Bahnhof von Doberlug-Kirchhain stattfinden – und wie jedes Jahr wollten die Künstlerinnen, gemeinsam mit einigen Gastkünstlerinnen diesen Raum neu erschließen, wollten die Geschichte und die Geschichten, die sich in und um den Transitort Bahnhof ereignen, ereignet und abgelagert haben, durch Kunstwerke ausgraben und erinnern. Bahnhöfe sind Orte des Abschieds und der Wiederkehr, Bühnen für Tragödien und Komödien, die neben Gepäckstücken, Lautsprechern, vor dem Hintergrund eingefahrener, wartender, abgehender Waggons aufgeführt werden. Nun aber hieß es aus den bekannten Gründen das Programm, die Programmatik der Endmoräne umzukrempeln: Ortsbezogen arbeiten ohne Ort, sich Aufeinander-Beziehen, oft ohne leibhaftige Gegenwart, ein Geisterspiel von visuellem Satz und Gegensatz in Gang zu bringen ohne räumliche Verankerung, die die Dinge materiell zusammenbringt.
Mit Verve, unverdrossen ließen sich die Endmoränen auf die neue Herausforderung ein. Tatsächlich nutzen und besetzen sie nun andere Räume, den virtuellen und mit dem publizistischen das Buch. Die Arbeiten entstanden nun eben anders, woanders. Was blieb, war die vielschichtige, jetzt aus der Ferne schwingende Metaphorik des abgespielten Orts, des Bahnhofs, der den weiten Hori­zont für die Projekte gab. Mit neuer Brisanz. Reisen, Bewegung, Warten, Umsteigen, Abschied, Ankunft, Ort und Ortlosigkeit, Mobilität und Still, Ungewissheit und Entgleisung: diese Fragen und ihre visuellen Ingredienzien werden in den nun entstandenen Arbeiten konzentriert und geöffnet.
Das Bilderbuch, das die solcherart entstandenen Dinge und Aktionen versammelt, einsammelt, wird zu einem Schauraum, zu einer Bilder-Bühne für ganz unterschiedliche Auftritte, für räumliche Verrückungen und Befragungen. In unterschiedlichen Medien, Zeichnung, Installation, Video, Fotografie, Text haben sich die Künstlerinnen dem Thema angenähert: Poetisch, konzeptuell, in partizipativen Projekten oder einzeln, im zeichnerischen Pingpong, im Rückgriff auf schon Vorhandenes, Eigenes oder im Aufspüren und Einsammeln von Spuren und Fundstücken, in der Dokumentation tatsächlich (noch) stattgefundener Reisen. Die Betrachtung dieses kleinen Orbus Pictus kann und wird nun auf andere Weise als der ursprünglich vorgesehene reale Raum ambivalente Impulse und Erfahrungen auslösen. Wie beim Schauen eines Films oder beim Gang durch die Stadt wird man auch beim Blättern durch diese Publikation mit rapiden Wechseln von Schauplätzen, Einstellungen, Haltungen und Szenen konfrontiert. Auch im Buch bewahrt und zeigt sich der bewegliche Umgang mit vorgefundenen Räumen, der die Arbeitsweise der Endmoräne auszeichnet. Hier wie dort geht es um die Möglichkeit, an seinem eigenen Ort anders zu sein und dem Anderen anders begegnen zu können.
Diese Dokumentation dient eben nicht nur der Speicherung der künstlerischen Aktionen und Interaktionen, sondern eröffnet einen Schauplatz von Beziehungen und ein Feld, in dem sich formale Identitäten, thematische Kontinuitäten, Begriffsübertragungen und polemische Spiele entfalten. Navigiert, gereist wird hier durch Betrachtung; irritiert oder erheitert, berührt und frei blättert man durch Stationen und Möglichkeits-Räume, die im Wortsinne neue und offene Seiten aufschlagen.
Und vielleicht korrespondiert die Reise, für die auch als architektorale Form des Bahnhofs steht, der Kunst und dieser Kunst noch auf gleichsam innigere Weise. In die Fremde gehen, Fremdgehen ist immer auch eine Bewegung des Eros, die die einengenden Grenzen des Eigenen überschreitet. Auf Reisen, in der Begegnung mit dem Anderen, treten Eigenes und Fremdes in Konjunktion – und Begegnung, ein Sich-Einlassen auf Unerwartetes, auf Fremdkörper, das Herausschälen von Korrespondenzen und Ambivalenzen, das Erspielen eines Zeit- und Raumgefüges ist auch ein wesentlicher Teil des Kunstwerks.
Das Transitorische, Nomadische, das die Kunst heute vielfach prägt, ist dann auch ein Hinausgehen, ein Verlassen von eingerichteten Wohnungen, Werkstätten, Ateliers und korrespondiert mit der Auffassung von Reise, wie sie noch im englischen ‚travel‘ mitschwingt, das die gleiche Wurzel wie das französische ‚travail‘ (arbeiten) hat. Es ist als körperliche oder geistige Arbeit Weltentwurf und Weltgestaltung im Transit. Die Bewegung vom einen zum anderen und das Zwischen-Uns bilden den Kern der Kunst,
Als Joseph Beuys 1985 gebeten wurde, Sätze, die ihm persönlich wichtig sind, auf kleine Schiefertafeln zu schreiben, die als Vorlage für eine Serie von Postkarten dienen sollten, war auch dieser Satz zu lesen: „Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt“. Das klingt fast wie eine Mitteilung an einem schwarzen Brett, die auf die Verlegung einer Veranstaltung hinweist, die nicht mehr am bisher üblichen Ort, zur gewohnten Zeit, unter den bekannten Bedingungen stattfindet. Von heute und mit dem ursprünglichen Plan der Endmoräne verknüpft, ist diese Aufforderung zum Ortswechsel fast prophetisch. Zugleich geht es in Beuys‘ Satz darum, den Bahnhof als transitorischen Ort hin zu etwas anderem zu begreifen, als Passage zu unbekannten Räumen und zu den eigenen unauflösbaren Rätselfragen. Jeder Bahnhof verrät uns, dass es eine Sehnsucht gibt, die Ferne und Nähe, Heimat und Heimatlosigkeit in ein unwägbares Verhältnis setzt. Ausgerechnet die Bahnhöfe, die steinernen, stählernen, gläsernen Monumente der Mobilität mit ihren Haupt- und Nebengebäuden, die als Zeichen des Fortschritts und der im Begriff des Fortschritts steckenden Entzauberung der Welt interpretiert wurden, können mit Beuys als Stätte der Imagination, des Anderen, des Unerklärlichen im Jetzt und Hier entdeckt werden. Schon der naturalistische Dramatiker Gerhart Hauptmann ließ den Protagonisten seiner Erzählung „Bahnwärter Thiel“ das Wärterhäuschen als Kapelle erleben. Und Harry ­Potter fährt von einem für normal Sterbliche unsichtbaren Gleis am Londoner Bahnhof King´s Cross, mit dem Hogwarts-Express zur Zauberschule: ein Hinweis vielleicht auf ein allgegenwärtiges Geheimnis, das Zauberhafte mitten unter uns.
Nach Michel Serres, dem Philosophen der Gemenge und Gemische, ist es Aufgabe der Kultur „Räume zu trennen und neu zu verbinden.“ Jeder Bahnhof, so abgelegen und winzig er auch sein mag, setzt uns potentiell mit der ganzen Welt in Verbindung. Solchen Neu-Verbindungen sind auf andere Weise die Endmoränen auch dieses Jahr auf der Spur. Und natürlich ist es irritierend und bereichernd zugleich, dabei manchmal nur Bahnhof zu verstehen.

Dorothée Bauerle-Willert

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